Value-Investing und der Value-Factor
Value-Investing und der Value-Factor
Einleitung
Warum verfasse ich gerade jetzt einen Artikel zum Value-Factor? Nun, der Value-Factor besagt, dass Value-Aktien statistisch attraktivere Renditen erbringen, als Growth-Aktien. Aber wie kann das sein? Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels im August und September 2020 können Growth-Titel auf eine deutlich bessere Performance in den letzten Jahren zurückblicken, als Value-Aktien. Nicht zuletzt haben Wachstumstitel – insbesondere Aktien von Unternehmen der Technologie-Branche – sogar von der Corona-Krise profitiert und sind teilweise sehr hoch bewertet. Zuletzt gab es einen Rücksetzer bei einigen dieser Unternehmen, dieser fiel jedoch in Relation zu den bisherigen Kursanstiegen eher klein aus.
Mittlerweile besteht fast die Hälfte der Kapitalisierung des S&P 500 aus Technologieunternehmen. Es stellt sich die Frage, inwiefern dieser Marktanteil noch in Relation zum realen Marktgeschehen steht. John C. Bogle wurde nie müde, darauf hinzuweisen, dass alle Werte früher oder später immer zur Mitte bzw. zu ihrem wahren Wert zurückkehren werden („Regression zum Mittelwert“). Der Zeitpunkt erscheint daher insofern recht passend, sich mit dieser Thematik näher zu beschäftigen. Welche Schlüsse und Überlegungen daraus abgeleitet werden können, sollte jeder Privatinvestor für sich selbst ableiten.
Factor-Investing
Factor-Investing hat das Ziel, sogenannte Faktorprämien zu erzielen, indem Wertpapiere, die diese Merkmale erfüllen, im Portfolio übergewichtet werden. In diesem Artikel möchte ich mich näher mit einem der bekanntesten Faktoren beschäftigen, dem Value-Factor. Wem das Thema Factor-Investing noch nicht geläufig ist, möchte ich gerne vorschlagen, zunächst meinen Artikel Einführung in Factor-Investing zu lesen.
Um genauer zu bestimmen, welche Faktoren aus dem mittlerweile sehr umfassenden „Factor Zoo“ für Investitionen tatsächlich in Frage kommen, definieren Berkin & Swedroe (2016) in ihrem sehr guten Einführungswerk zum Thema A Complete Guide to Factor-Based Investing* insgesamt fünf Kriterien, die ein Faktor erfüllen muss:
- Persistent – der Faktor besteht über lange Zeitperioden und verschiedenen Marktphasen
- Pervasive – der Faktor ist über verschiedene Länder, Regionen, Branchen und Assetklassen nachweisbar
- Robust – der Faktor besteht über verschiedene definitorische Auslegungen; im Falle des Value-Faktors gilt dieser unabhängig davon, ob er an KBV oder anderen fundamentalen Messgrößen bestimmt wird (siehe dazu etwas weiter unten)
- Investable – der Faktor besteht auch nach Berücksichtigung der Handelskosten
- Intuitive – es gibt entweder risikobasierte oder verhaltensbasierte Erklärungen für die Faktorprämie und logische Annahmen, warum die Prämie weiterhin bestehen sollte (siehe weiter unten)
Es gibt nur einige wenige Faktoren, die all diese Kriterien mehr oder weniger erfüllen und daher für Investoren von Interesse sein können. Die interessantesten und vielversprechendsten davon sind Size, Momentum, Quality/Profitability, Low Volatility, Political Risk und nicht zuletzt – der Value-Factor.
Value-Investing und der Value-Factor
Auch wenn es Überlappungen zwischen den verschiedenen Varianten des Value-Investings gibt, so soll es in diesem Artikel um Value-Investing basierend auf den Value-Faktor gehen, wie er von Fama und French (1992) dokumentiert wurde. Unter anderem für seine Arbeiten zu diesem Thema wurde Eugene F. Fama 2013 der Wirtschaftsnobelpreis verliehen. Der Value-Effekt wurde erstmals in den frühen 1980ern dokumentiert (vgl. Stattman, 1980 oder Rosenberg, Reid & Lanstein, 1985, zitiert nach Fama & French, 1992 oder DeBondt & Thaler, 1987, zitiert nach Bender, Briand, Melas & Subramanian, 2013).
Der Value-Faktor besagt, dass Aktien mit einer niedrigen fundamentalen Bewertung statistisch attraktivere Aktienrenditen erbringen.
Eine Value-Strategie, die sich diesen Effekt zunutze macht ist grundsätzlich von einer Value-Strategie im Sinne einer Investmentstrategie nach Warren Buffett oder Benjamin Graham abzugrenzen. Manche Elemente und Kriterien überlappen dabei, wie zum Beispiel eine niedrige fundamentale Bewertung (vgl. dazu etwas später), andere wiederum nicht, wie etwa das sogenannte antizyklische Investieren, wie es von Buffett praktiziert wird.
Zudem versteht sich eine Value-Faktorstrategie auch noch als passives Investieren, wobei man über die Auslegung dieses Begriffs durchaus streiten kann. Jedoch erfolgt hier die Titelauswahl regelbasiert und mechanisch während Buffetts Strategie einen deutlich aktiveren Charakter durch die Aktienauswahl mittels Stock Picking hat (Kommer, 2018).
Value-Aktien vs. Growth-Aktien
Value-Aktien sind – kurz gesagt – günstige Aktien. Es sind dies meist Aktien von Unternehmen, die schwach wachsenden, unpopulären Branchen angehören, wie etwa der Ölbranche, der Automobilindustrie, dem Energieversorgungssektor oder der Finanzbranche. Hier machen sich Anleger wenig Hoffnung auf ein starkes zukünftiges Wachstum und es wird auch eine starke Abhängigkeit vom Konjunkturzyklus erwartet. Dies führt dazu, dass diese Aktien tendenziell preisgünstig und unterbewertet sind.
Dem Value-Sektor stehen Growth-Aktien gegenüber, also Aktien von hoch bewerteten, schnell wachsenden und teuren Unternehmen. Growth-Aktien findet man meist in Branchen wie Technologie, Marken-Konsumprodukte und Gesundheit. Im Gegensatz zu Value-Aktien erwarten die Anleger hier schnell steigende Gewinne und eine geringere Abhängigkeit vom Konjunkturzyklus.
Preisgünstig und unterbewertet ist dabei so zu verstehen, dass der Preis der Aktie relativ zu betriebswirtschaftlichen Kennzahlen und relativ zu anderen Aktien niedrig ist. Es gibt drei bekannte Value-basierte Kennzahlen, mit denen der Value-Grad einer Aktie bemessen werden kann:
- Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV)
- Das Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV)
- Die Dividendenrendite
Während KGV und KBV bei einer Value-Aktie niedrig ausgeprägt sein sollten, ist die Dividendenrendite bei einer Value-Aktie hingegen eher hoch ausgeprägt.
Ob ein Unternehmen als Value- oder Growth-Aktie einzustufen ist, kann über die Zeit allerdings durchaus fluktuieren. So kann zum Beispiel eine Aktie aus der Technologiebranche als Value-Aktie eingestuft werden, wenn sie bei Anlegern nicht beliebt ist und daher relativ zu den Fundamentaldaten einen niedrigen Kurs aufweist. Umgekehrt könnte zum Beispiel ein Unternehmen der Automobilbranche zu einer Growth-Aktie werden, wenn sie bei Investoren sehr beliebt und daher relativ zu den Fundamentaldaten sehr teuer ist.
Performance und Risiken von Value-Aktien
Value-Aktien haben in den letzten 50 Jahren gute Renditen gebracht, allerdings haben sie immer wieder sehr schlechte Perioden durchlebt. So zeigte Value zum Beispiel eine besonders schlechte Performance in der Rezession der frühen 1990er, im Internet-Bullenmarkt der späten 1990er und in der Finanzkrise 2007 – 2008.
Value-Aktien performen eigentlich seit etwa 2007 (mit wenigen Ausnahmen) durchgehend schlecht, in den letzten Jahren sogar besonders schlecht. Im Zeitraum von 2007 bis 2016 lag die Rendite des MSCI World Value Index unter der vom MSCI World Standard Index (siehe Abbildung unten). Es kam also zu einer deutlich schlechteren Performance gegenüber dem Referenzindex. Und auch in den Jahren 2017 bis 2019 hat der Value Index jedes Jahr deutlich schlechter performt, als der Standard Index.
Und hier zeigt sich auch das erhöhte Risiko einer Value-Strategie. Berkin & Swedroe (2016) weisen etwa folgende Wahrscheinlichkeiten einer Outperformance des Value-Faktors für verschiedene Anlegerzeiträume aus:
1 Jahr | 3 Jahre | 5 Jahre | 10 Jahre | 20 Jahre | |
---|---|---|---|---|---|
Value | 63 % | 72 % | 78 % | 86 % | 94 % |
Wie man sieht, liegt die Wahrscheinlichkeit einer Outperformance für einen Zeitraum von 10 Jahren bei 86 %. Nachdem Value seit 2007 eigentlich durchgehend schlecht performt, zeigt sich die Problematik, dass Entwicklungen in der Vergangenheit auch nie ein Garant für eine ähnliche Entwicklung in der Zukunft sind. Ein entsprechend guter Lauf von Value-Titeln wäre (aus rein statistischer Sicht) jedoch bereits längst überfällig. Wann und ob dieser überhaupt kommen wird, kann jedoch niemand mit Sicherheit sagen.
Was man aus den bisherigen Informationen ableiten kann, ist, dass Anleger mit einer Value-Strategie unter Umständen einen langen Atem und einen genauso langen Anlegerhorizont benötigen, um von der Value-Prämie profitieren zu können. Für viele Investoren sind solche Zeiträume zu lange und deshalb vermeiden sie eher die schwerfälligen und unbeliebten Value-Unternehmen.
Wer allerdings eine ausgeprägte Frustrationstoleranz mitbringt, kann unter Umständen von der Value-Prämie profitieren. Vergleicht man andere und vor allem längere Zeiträume, so dreht sich das Bild deutlich zugunsten der Value-Aktien, wie ein Vergleich der Inflationsbereinigten Renditen für den Zeitraum zwischen 1975 bis 2016 zeigt (Auszug aus Kommer, 2018*):
MSCI World Value | MSCI World Standard | MSCI World Growth | |
---|---|---|---|
1975 bis 2016 | 8,2 % | 7,5 % | 5,9 % |
1975 bis 1986 | 14,2 % | 12,0 % | 9,6 % |
1987 bis 1996 | 7,3 % | 5,9 % | 4,8 % |
1997 bis 2006 | 7,7 % | 6,2 % | 4,3 % |
2007 bis 2016 | 4,4 % | 5,3 % | 6,2 % |
Anm.: die Value- und Growth Indizes hier wurden gebildet, indem der Standardindex in zwei Hälften geteilt wurde, einer Value- und einer Growth-Hälfte.
Warum performen Value-Aktien besser als Growth-Aktien?
Für die Existenz der Value-Prämie gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Generell gibt es für das Auftreten von Faktorprämien zwei Arten von Erklärungen:
- Rationale Erklärungen – das Übergewichten von Faktoren im Portfolio erbringt langfristig höhere Renditen als Ausgleich für ihre Risiken bzw. für eine höhere Schwankung und eine schlechtere Performance über ungewisse Zeiträume.
- Verhaltenserklärungen – Faktorprämien resultieren aus dem Anlegerverhalten bzw. aus Anlegerirrationalitäten, die nicht weg arbitriert werden
Der Value-Effekt ergibt sich vermutlich sowohl durch Anlegerirrationalität einerseits und erhöhtem Risiko andererseits.
Value-Aktien haben eine höhere Volatilität, die sich etwa darin bemerkbar macht, in schlechten Marktphasen noch tiefer zu fallen als der Gesamtmarkt. Eine rationale Erklärung im Hinblick auf die erhöhte Volatilität wäre etwa, dass Value-Firmen deutlich weniger flexibel sind als Growth-Firmen. Value-Unternehmen haben oft viel „unproduktives Kapital“ wie z.B. Herstellungsequipment. Dieses kann in wirtschaftlich schwierigen Situationen nicht einfach zu Geld gemacht werden. Growth-Firmen hingegen bestehen sehr oft in hohem Maße aus Humankapital, wodurch sich eine größere Flexibilität ergibt. Fundamental gesehen sind Value-Firmen daher also riskanter, da sie dadurch auch stärker Gefahr laufen, Pleite zu gehen (Ang, 2014*; Weber, 2015*).
Eine verhaltenstheoretische Erklärung für den Value-Effekt wäre, dass die hohen Wachstumsraten von Growth-Firmen bei den Anlegern häufig zu der Annahme führen, dass diese auch in Zukunft weiter bestehen bleiben (vgl. dazu einen Artikel von mir zum Thema Performance-Chasing). Erfüllen sich diese Annahmen jedoch nicht und die Wachstumsraten setzen sich nicht fort, so fallen die Preise und die Renditen sinken unter jenen von Value-Unternehmen.
Value-Aktien sind schließlich deshalb so billig, da Investoren ihre Wachstumschancen unterschätzen. Growth-Aktien hingegen so teuer, da ihre Wachstumschancen von den Anlegern überschätzt werden. Bei der Entstehung der Value-Prämie dürfte also auch ein psychologischer Bias zum Tragen kommen.
Es können auch weitere psychologische Verzerrungen bei der Erklärung des Value-Effekts eine Rolle spielen, etwa Verlustaversion und Mental Accounting.
Auch dürfte es so sein, dass Bekanntheit mit Sicherheit verwechselt wird. Da den meisten Menschen populäre Wachstumsunternehmen geläufiger und vertrauter sind, werden diese als sicherer eingestuft und höher bewertet.
Die psychischen Herausforderungen der Value-Strategie
Investitionen in Value-Aktien sind grundsätzlich riskanter. Dieses Risiko muss man bereit sein zu tragen. Weiters bringt eine Value-Strategie erhöhte Anforderungen an die psychische Belastbarkeit mit sich, denen Investoren gewachsen sein müssen. Um die Value-Prämie ernten zu können ist es notwendig, in herausfordernden Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren und keine emotionalen Entscheidungen zu treffen, die zu unwiderruflichen Kapitalverlusten führen können.
Wie wir bereits gesehen haben, benötigen Value-Investoren einen sehr langen Atem. Es ist nicht sehr angenehm von der Seitenlinie aus zuzusehen, wie andere Investoren mit überirdischen Wachstumsraten ihrer Aktien prahlen. Je weiter die Kurse der Wachstumsunternehmen steigen, umso lauter werden die Rufe von Mr. Market, die unbeliebten und trägen Value-Unternehmen zu verkaufen und auf den Zug der hippen Wachstumsgiganten aufzuspringen.
Investoren dürfen sich daher die Frage stellen, ob sie das erhöhte Risiko einer Value-Strategie und unter Umständen lange Perioden mit wenig Wachstum verkraften und lange Durststrecken mit niedriger Performance durchstehen können. Wenn sie bereit sind, diese Herausforderungen auf sich zu nehmen, könnten sie in der Zukunft vom Value-Effekt profitieren. Eine garantierte Aussicht auf Erfolge gibt es allerdings nicht. Die Entwicklungen der Vergangenheit müssen nicht zwangsläufig auch in der Zukunft eintreten. Ob man die Argumente dafür für ausreichend überzeugend hält, obliegt einem selbst.
Andrew Ang (2014) schlägt daher auch vor, die Wahl der persönlichen Strategie immer auch unter Berücksichtigung der eigenen Persönlichkeit abzuleiten. So empfiehlt er all jenen Investoren, die dazu neigen, sich wie die breite Masse zu verhalten, einfach den Markt zu halten. Wer zu Überreaktionen neigt, könnte seiner Ansicht nach eher mit eine Growth-Strategie glücklich werden. Wer allerdings imstande ist, das Gegenteil der Mehrheit zu tun und über lange Strecken frustrationstolerant ist, der könnte sich an die Value-Strategie heranwagen.
In der Fortsetzung des Artikels werde ich konkrete Möglichkeiten besprechen, wie man in den Value-Factor investieren kann. Beachte bitte den Haftungsausschluss weiter unten.
Literaturverzeichnis
Bender, J., Briand, R., Melas, D. & Subramanian, R.A. (2013). Foundations of Factor Investing. MSCI Research Insight. Online abgerufen: https://www.msci.com/documents/1296102/1336482/Foundations_of_Factor_Investing.pdf/004e02ad-6f98-4730-90e0-ea14515ff3dc (28.8.2020).
Bender, J., Briand, R., Melas, D., Subramanian, R.A. & Subramanian, M. (2013). Deploying Multi-Factor Index Allocations in Institutional Portfolios. MSCI Research Insight. Online abgerufen: https://pdfs.semanticscholar.org/6961/f1cb7c29a2cfae5de2ca7b7f5e68658d3ca7.pdf (28.8.2020).
Fama, Eugene & French, Kenneth (1992). The Cross-Section of Expected Stock Returns. The Journal of Finance; 47, 2, 427-465. Online abgerufen: https://www.ivey.uwo.ca/cmsmedia/3775518/the_cross-section_of_expected_stock_returns.pdf (25.8.2020).
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